
Ein Artikel von Prof. Dr. Heiko Krüger, Autor von Staat 3.0
Ein Gefühl von Erschöpfung und Unruhe liegt über dem Land. Die Demokratie, einst stabiles Fundament der Gesellschaft, gerät weiter unter Druck. Eine Krise scheint die nächste zu jagen. Jede neue Erschütterung verstärkt den Eindruck einer Politik, die vor allem reaktiv agiert, den Ereignissen hinterherhechelt und sich mit der Schadensbegrenzung beschäftigt, während langfristige Weichenstellungen auf der Strecke bleiben. Zukunftsvisionen sind rar geworden, während berechtigte oder überzogene Krisenstimmung und parteipolitische Manöver allzu oft das Bild dominieren. Das Vertrauen der Bürger schwindet und der Ruf nach einfachen Antworten wird lauter.
Mitten in dieser diffusen Atmosphäre drängt sich eine Frage auf, die vor wenigen Jahren noch wie reine Science-Fiction klang: Kann die Digitalisierung – oder gar der Einsatz von Künstlicher Intelligenz – ernsthafte Alternativen zu unserer von Parteien dominierten Demokratie bieten? Eine Überlegung, die uns Bürger früher oder später beschäftigen dürfte, wenn die Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment verbleibt.
Superintelligenz statt Parlament?
Stellen Sie sich ein Zukunftsszenario vor, in dem politische Entscheidungen nicht mehr in Parlamenten von Menschen getroffen werden, sondern von Maschinen. Diese Vorstellung – beinahe anrüchig in ihrer Konnotation – bildet den Ausgangspunkt eines Gedankenspiels, das gleichermaßen fasziniert und beunruhigt. Der schwedische Philosoph Nick Bostrom, ein angesehener Vordenker der Zukunftsforschung, entwirft in seinem Buch Superintelligence verschiedene Szenarien, in denen eine künstliche Intelligenz entstehen könnte, die die menschliche Denkleistung auf nahezu allen Gebieten weit übertrifft. Auf der Basis gigantischer Datenmengen wäre diese Maschine in der Lage, Entscheidungen rational zu fällen – ganz ohne parteipolitische Interessen oder ideologische Färbung.

Staat 3.0 von Prof. Dr. Heiko Krüger
Bemerkenswert ist, dass bereits lange vor dem jüngsten Hype um KI-gestützte Anwendungen wie ChatGPT eine Studie der IE University aus dem Jahr 2019 zeigte: Rund ein Viertel der befragten Europäer wäre bereit, einer Künstlichen Intelligenz die Verantwortung für wichtige landesweite Entscheidungen zu übertragen. Doch die Verheißungen dieser Technologie sind untrennbar mit erheblichen Risiken verbunden. Bostrom warnt zu Recht davor, dass eine Superintelligenz – einmal in Machtposition gebracht – sich womöglich der menschlichen Kontrolle entziehen könnte.
Mehr noch: Demokratie ist weit mehr als die bloße Anwendung algorithmischer Formeln, die aus historischen Daten abgeleitet werden. Demokratische Gesetzgebung und Entscheidungsprozesse bedeuten ein Austarieren sich durchaus wandelnder gesellschaftlicher Interessen – beeinflusst von ethischen Fragestellungen, gesellschaftlichen Entwicklungen und neuen Herausforderungen. Eine Superintelligenz mag in der Lage sein, optimale konservative Lösungen zu berechnen – eine Demokratie lebt jedoch von Menschen immer neuer Generationen, die miteinander um die Zukunft ringen, streiten und Kompromisse aushandeln.
Parteitaktik entlarven, Reformen simulieren – KI als neues Korrektiv?
Die Erkenntnis, dass weiterhin Menschen über die Geschicke des Landes entscheiden sollten, ändert nichts an der Wahrnehmung, dass die Politik sich allzu oft in parteitaktischen Manövern verliert – Reformen abschwächt, dringend nötige Weichenstellungen vertagt, selbst die eigene Koalition zum Scheitern bringt.
Im digitalen Zeitalter stellt sich die Frage: Könnte Künstliche Intelligenz zumindest dazu beitragen, parteitaktische Manöver offenzulegen und den Blick auf die eigentlichen Bedürfnisse der Bürger zu richten?
Die Vorstellung wirkt futuristisch, ist aber der Realität vielleicht näher, als man vermuten mag. Bereits heute durchforsten Algorithmen gewaltige Datenmengen, entschlüsseln Muster und analysieren gesellschaftliche Dynamiken. Weltweit entstehen Forschungszentren, die sich im Rahmen der jungen Disziplin „Computational Social Science“ der Frage widmen, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen aus Daten ableiten lassen. Besonders vielversprechend erscheinen dabei digitale Zwillinge – hochentwickelte Modelle, die in Echtzeit gesellschaftliche Prozesse abbilden und die Wirkung gesetzgeberischer Maßnahmen simulieren können. Erste Studien deuten darauf hin, dass solche Instrumente in Ministerien und Parlamenten dazu beitragen könnten, die Effekte neuer Gesetze präziser vorauszusehen und zu bewerten.
Mit Hilfe derartiger Technologien ließe sich feststellen, inwieweit politische Kompromisse von einer idealen Lösung abweichen. Werden die Kalkulationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, könnten Politiker schnell in Erklärungsnot geraten.
Letztlich wissen wir aber, dass Politiker – als geübte Redner – einen solchen Umstand geschickt zu handhaben wissen. Ob Reformen tatsächlich aus Überzeugung zugunsten eines bestimmten öffentlichen Interesses abgeschwächt werden oder ob dahinter die Angst vor einer Abwahl steckt oder eine Mischung von beidem, lässt sich oft nur klären, wenn sie sich offen dazu äußern. Maschinen dürften kaum taktische Verzerrungen aufspüren, wenn diese sich allein in den Köpfen der Entscheidungsträger abspielen. Künstliche Intelligenz wird künftig zwar zu einem bedeutsamen Instrument reifen, um die an Parlamente herangetragenen Gesetzesentwürfe zu optimieren – nicht aber, um jene subtilen, rein strategischen Verschiebungen aufzuspüren.
Digitale Teilhabe statt technokratische Utopie
Doch brauchen wir wirklich Künstliche Intelligenz, um unsere Demokratie wieder auf Vordermann zu bringen? Schließlich ist Demokratie ein von Menschen für Menschen geschaffenes Konstrukt. Scheitern unsere Politiker daran, ihre Eigenrotation zu überwinden, das Volk wirklich zu verstehen sowie Visionen und Mut statt stete Krisenstimmung zu vermitteln, dann sollten wir als Bürger im digitalen Zeitalter stärker auf eine Rückübertragung der Macht pochen.
Daten der OECD zeigen, dass die Bürgerbeteiligung in den letzten Jahren durchaus eine Blütezeit erlebt hat. Dennoch wünscht sich laut einer Studie der Körber-Stiftung aus dem Jahr 2023 in Deutschland überwältigende 86 Prozent der Befragten eine stärkere Einbindung in wichtigen politischen Entscheidungen. Das Volk ist der Demokratie nicht überdrüssig, es fordert sie – hat aber genug von einem politischen Betrieb, in dem sich die Berufspolitiker aller Couleur um sich selbst drehen.
Im digitalen Zeitalter wird unser gesamtes Leben durch das Internet und digitale Technologien bestimmt. Warum aber sollte ausgerechnet die Demokratie in einem Zustand verharren, als lebten wir noch im 20. Jahrhundert? Immer wieder werden juristische und technische Argumente ins Feld geführt, warum Wahlen und damit auch eine umfassendere Mitbestimmung nicht digital möglich sein sollen. Doch in einer Welt, in der wir uns zunehmend im Virtuellen bewegen, in der wir längst unser Geld – das Fundament wirtschaftlicher Sicherheit – vertrauensvoll Maschinen überlassen, erscheint diese Skepsis immer fragwürdiger.
Soll der wahre Souverän im Staat, das Volk, wirklich auf alle Ewigkeit an eine Form der Demokratie gebunden sein, die längst an ihre Grenzen stößt? Oder wäre es an der Zeit, sich mithilfe digitaler Technologien ein Stück weit von den Parteistrukturen zu lösen und der Demokratie die dringend benötigte Vitalisierung zu verschaffen?
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Weitere Infos zum Autor: https://heikokrueger.com/